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Die ehemalige Lauterbacher Sankt Wendelskapelle
- Augenzeugenbericht -

Jean Louis Tilleur, ein ehemaliger Lauterbacher Bürgermeister und Chronist, schildert in seiner „Chronica“ aus dem Jahr 1762 anschaulich die Ereignisse in der alten gotischen Stadtkirche, die die Wendelskappelle, zumindest für einige Jahre, in den Mittelpunkt des kirchlichen Lebens rückte. Der Verständlichkeit halber habe ich mir erlaubt, den Text in modernes Deutsch zu übersetzten.


Besonderer Vorfall, in der Kirche geschehen, 1762

 

Es war am 8. August, oder am neunten Sonntag nach Trinitatis [Dreifaltigkeitsfest = erster Sonntag nach Pfingsten], als sich in unserer Stadtkirche folgender Vorfall ereignete. Zuerst muss man von dieser Kirche wissen, dass sie schon viele Jahre schadhaft und baufällig gewesen war. Hier und da zeigte sich auch ein Riss in den Mauern und den steinernen Gewölben, aus welchen zuweilen Speis und kleine Steine gefallen waren. Diese Umstände, die nichts anderes als das Alter und die Baufälligkeit des Baus anzeigten, hatten die Herrschaft [Freiherrn zu Riedesel] und die Stadt schon vor 12 Jahren bewogen, Anstalten zu einem neuen Kirchbau zu machen. Eine Planung dazu wurde damals sowohl zu Papier gebracht als auch als Modell gebaut. Eine große Menge Steine wurde herangeschafft und aufs schönste behauen. Kurz um, es wurde mit dem Bau bereits begonnen. Allerdings war das vorrätige Geld, nämlich 12.000 Gulden, in wenigen Jahren aufgebraucht. Die Herrschaft stellte nun nicht nur weitere Zahlungen ein, sondern mutete der Stadt  sogar zu, sie solle die Kirche auf eigene Kosten bauen. Die Stadt hatte aber schon 300 Gulden durch Ausgabe von Baulosen zu 6 Gulden pro Stück von jedem Bürger, oder armen Witwe, geleistet, und damit ihr möglichstes getan. Außerdem war es nicht ihre Aufgabe, in der Residenz der herrschaftlichen Familie und auf das Gebiet des Landes, aus eigenen Kräften eine Kirche zu bauen. Sie war finanziell auch gar nicht in der Lage dazu. Und so geriet der Kirchenbau ins Stocken und die so schön ausgehauenen Steine hatten bis dahin viele Jahre in Wind und Wetter gelegen. Indessen wurde die alte Kirche immer baufälliger. Um einen Einsturz der Westseite zu vermeiden, sah man sich gar genötigt, sie dort mit hölzernen Balken und Pfeilern zu stützen.
Als nun am Vormittag des 8. August die Kirche mit Menschen gefüllt und der Inspektor in der Mitte seiner Rede war, entstand eben an dieser Westseite, den Schulhäusern zugewandt, ein „Gerassel“, welches nach Aussage vieler Anwesenden einer einfallenden Mauer glich. Andere verglichen es mit der „Losbrennung schießender Gewehre“. In diesem Moment meinten einige Menschen, die Kirche stürze ein, welches einige auch in der Bestürzung mit lauter Stimme schrieen. Sofort suchte jeder nach einer Fluchtmöglichkeit, um sein Leben zu retten. Die Männer rannten zuerst los. Durch die Panik angesteckt folgten jetzt auch die Frauen.
Nun liefen und rannten alle aus einer Ecke in die andere und über Stühle und Bänke. Ein entsetzliches und unglaubli­ches Getöse entstand in der Kirche. Die Kinder fingen ein erbärmliches Geheul an, sowohl aus Furcht, als auch vor Schmerzen durch das Gedränge. Viele verletzten sich durch das Pressen und Schieben in den Kirchentüren. Andere sind zu Boden gestürzt und wurden überrannt. Wieder Andere hatten Schuhe, Kappen, Hüte und andere Dinge verloren. Einer sprang hier, ein anderer dort von einer Höhe oder einem Stand herab. Der Älteste der riedeselschen Familie, der damalige Erbmarschall, welcher mit zwei seiner Vettern in der Kirche war und dieses Unglück mit ansah, kam im Haupttor der Kirche dermaßen ins Gedränge, dass er umfiel und unter die heraus rennende Menschen-masse geriet. Inspektor Schmitt aus Gießen, verließ die Kanzel, kehrte aber wieder zurück, weil auch er nicht aus der Kirche her­aus kam. Der Pfarrer stellte sich neben den großen Altar und richtete mit gen Himmel gerichteten Augen und ringenden Händen ein Gebet an Gott. Danach fragte er eine Gruppe von Gläubigen nach der Ursache der Panik. Er konnte aber keine in Erfahrung bringen. Das „Gerassel“ hatten wohl nicht alle gehört, und so war die eigentliche Ursache der Panik nicht gleich auszumachen.
  So kam es auch, dass einige sagten, es würde brennen. Andere meinten, die Stadt würde von eingedrungenen Soldaten geplündert, denn die Zeiten waren gar kriegerisch. Kurz gesagt, es war ein solches Getöse, Angst, Schrecken, Furcht und jämmerliches Heulen, dass einem die Haare zu Berge standen und jeder Angst um sein Leben hatte. Viele riskierten dabei wirklich ihr Leben, um andere Leben zu retten.
Als man jedoch erkannte dass die Kirche nicht einstürzte, beruhigte sich der Aufruhr. Die, die in der Kirche geblieben waren, beendeten noch den Gottesdienst, denn das Abendmahl war noch zu halten.

D
ie anderen aber, welche nach Hause gelaufen waren, kamen nicht zurück. Sehr viele, besonders schwache und alte Menschen, waren dermaßen erschrocken, dass es viel Zeit und Medizin erforderte, sie wieder zu beruhigen.
Nicht wenige hatten in der Meinung, die Kirche sei eingestürzt, Angst und Schrecken verbreitet.
Sie waren panisch durch die Straßen gelaufen und erzählten händeringend allen, die sie fragten was passiert sei, „die Kirch ist eingefallen, ach, die Kirch ist eingefallen“. Diese liefen jetzt zur der Kirche, um ihre Angehörigen tot oder zerschmettert vorzufinden oder womöglich noch retten zu können. Mit einem Wort, der Jammer und die Not hatte sich über die ganze Stadt ausgebreitet und nie­mand konnte eine sichtbare Ursache angeben, denn die Kirche blieb unbe­weglich stehen.
Doch dabei blieb es nicht, denn nach beendetem Gottesdienst wurde die Kirche durch Zimmerleute überprüft. Da nichts Schadhaftes gefunden werden konnte, fand am Nachmittag ein weiterer Gottesdienst statt, welcher aber sehr schlecht besucht war. Daraufhin wurden noch am gleichen Tag zwei Baumeister, einer aus Laubach, der andere aus Gedern, angefordert, um die Kirche in Augenschein zu nehmen. Die Betstunden wurden indessen weiter in der Kirche gehalten. Weil aber nur sehr wenige Gläubige kamen, wurden sie ab dem 11. August im Rathaus, auf dem so genannten Tanz-Boden abgehalten.
Am 12. August kamen die Baumeister und überprüften die ganze Kirche von unten bis oben, zwei Tage lang. Sie konnten aber, bei aller Anstrengung nichts finden, woher das vorher gehörte Grollen und Knattern hätte kommen können. Sie konnten auch nicht angeben, wodurch ein Einsturz des Baues zu vermuten sei. Ausgenommen zweier Pfeiler, welche nach ihren Angaben ein Zoll aus dem „Perpendikel“, also aus dem Lot, gewichen waren. Das wiederum verursachte einen Sprung in einem Gewölbebogen, der darauf ruhte. Diese Seite der Kirche befanden Sie schließlich als gefährlich und baufällig, da sie bereits mit hölzernen Balken gestützt war.
Da die Kosten für ein erforderliches eisernes Gehänge, welches das komplette steinerne Gewölbe hätte stützen müssen, und die Neuerrichtung der baufällige Seite sehr beträchtlich gewesen wären, plante man eher einen Neubau als Ersatz der alten Kirche. Und weil sehr viele Leute, „Vornehme wie Geringe“, sich nicht mehr trauten, die Kirche zu betreten, wurde ab dem folgenden Sonntag der Gottesdienst in der Toten- oder sogenannten St. Wendels Kirche abgehalten. Die Betstunden und Hochzeiten fanden im Rathaus statt. Die Schulkinder wurden zu Hause getauft. Da auch die St. Wendels Kirche für eine so zahlreiche Gemeinde zu klein war, wurden nicht nur neue Bänke angeschafft. Man teilte die Gemeinde in zwei Gruppen ein. Ein Gottesdienst fand dann vormittags, ein zweiter nachmittags statt. Während dieser Zeit suchte man nach dem geschicktesten und erfahrensten Baumeister.